Oktober 2017, El Hierro, Kanaren – Ich sitze im Cockpit und schaue in die Bucht. Es ist düster, fast nebelig, die Berge der Baia de las Playas sind nicht mehr zu erkennen, und die Betonnung der Hafeneinfahrt veschwimmt im Dunst. „Es wird bald November, es sieht kalt aus, zieh dich warm an!“, meldet mein präfrontaler Kortex , obwohl ich schwitze, schwitze, schwitze. Eine eigenartige Befindlichkeit. Ich bin völlig neben der Spur! ::::
Donnerstag, d. 12.10. Vueltas, La Gomera – Heute geht es weiter. Es hat uns gut gefallen in Vueltas, Valle Gran Rey. In den letzten Tagen aber war wenig Wind, und unser Windgenerator konnte uns nicht mit Strom versorgen. Auch die Sonne blieb zumeist unter einem Dunstschleier verborgen, und unsere Energievorräte an Bord gehen deshalb langsam zur Neige. Wir müssen nach 5 Tagen am Haken wieder in einen Hafen. Um 10 Uhr lichten wir den Anker und nehmen Kurs auf El Hierro. Die Insel interessierte uns schon immer, nicht nur wegen der Natur, sondern auch in navigatorischer Hinsicht.
Wie orientieren sich Seeleute auf den endlosen Weiten der Ozeane? Geographen und Kartographen haben die Erdkugel dazu mit einem imaginären Netz aus Gitterlinien versehen. Die Breitengrade werden vom Äquator aus gezählt, und die Pole der Erde liegen bei 90° Nord bzw. Süd. Für die Längengrade aber gibt es keinen geographischen Fixpunkt. Sie werden von einem Nullmeridian aus nach Osten und Westen gezählt, und zwar jeweils bis 180°. In der Antike, das lernten wir in der theoretischen Skipper-Ausbildung, waren die Kanaren das westliche Ende der bekannten Welt. Ptolemäus legte daher um das Jahr 150 den durch El Hierro (früher: Ferro) verlaufenden Längengrad als Nullmeridian fest.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts existierten viele verschiedene Nullmeridiane (nämlich der ptolemäische Ferro-Meridian von El Hierro, aber auch der Greenwich-Meridian, der St. Petersburg Meridian und der Meridian von Paris). Man kann sich vorstellen, dass das zu vielen Missverständnissen führte! Erst 1884 ist nach viel hin und her der noch heute gültige Meridian von Greenwich international als Nullmeridian anerkannt worden. Der „Ferro-Meridian“ von El Hierro ist heute also de facto bedeutungslos. Wir aber wollen trotzdem hin!
Als wir die Bucht vor Vueltas verlassen, liegt La Gomera im Dunst. Schon nach wenigen Meilen verschwindet alles hinter einem grauen Schleier, und die Insel erscheint im Schwarz-Weiss-Format. Es ist immer noch kein Wind, und TinLizzy tuckert in Motorfahrt brav Richtung Südwesten. El Hierro ist nicht zu sehen.
Nach zwei Stunden aber entdecken wir die ersten sich brechenden Wellenkämme am Horizont. Rasmus hat den Wind angestellt. Wir setzen flugs die Segel (sicherheitshalber mit einem Reff) und warten auf die „Acceleration“. Tatsächlich! Schon bald rauschen wir bei satten 4 Beaufort mit 6-7 Knoten in Richtung El Hierro.
Unterwegs, bestimmt 15 Meilen von Land entfernt, bekommen wir Besuch. Eine Taube verirrt sich zu uns aufs Schiff. Sie ist total erschöpft und setzt sich zitternd auf unsere Sprayhood. Später wandert sie auf unsere Badeplattform. Jochen gibt ihr ein wenig Wasser und ein paar Brotkrumen, die sie dankbar annimmt. „Palomita“, das Täubchen, ist handzahm. Es scheint eine Brieftaube zu sein, denn sie ist an beiden Beinchen beringt. Wir lassen sie auf der Badeplattform ausruhen …..
Wir erreichen Puerte de la Estaca im Sonnenschein und bei frischer Brise. Glücklicherweise ist viel Platz im Hafen – und an einem „Pfahl“ (la estaca) müssen wir auch nicht festmachen. Es gibt einen modernen Steg mit Fingern. Alles vom Feinsten! Beim Anlegen allerdings wird es „Palomita“ irgendwie zu stressig. Sie fliegt davon.
Wie wird sie nachhause finden? Später am Abend befrage ich Wikipedia. Wissenschaftler gehen davon aus, dass Brieftauben so wie auch die Zugvögel den Stand der Sonne und Sterne sowie das Magnetfeld der Erde als Kompass verwenden können. Eine Brieftaube findet immer den Weg zurück in den Heimatschlag, und sie kann dabei locker Strecken von bis zu 1000 Kilometern zurücklegen. Palomita, woher kamst du? Und wohing willst du ziehen??
Freitag, d. 13.10., El Hierro – So ein Pech! Zwar liefen wir bei frischer Brise in Estaca ein, aber heute hat uns der Dunst aus La Gomera eingeholt. Es ist „Kalima“ – und dieser Wind kommt aus Afrika und bringt Hitze und staubigen Dunst. Wir besorgen uns für die nächsten Tage einen Mietwagen und fahren erstmal in die nächstgelegenen Badebuchten. Die Temperatur steigt und steigt. Das kann man nur im Wasser aushalten.
Als wir gegen Abend aus dem Inselnorden an Bord zurückkehren, sehen wir: TinLizzy hatte Besuch. „Palomita“ war offensichtlich wieder bei uns zu Gast, denn der Boden unseres Cockpits ist voller Schiet. Von ihr selbst ist aber nichts zu sehen. Jochen macht sich an die Arbeit und schrubbt den Boden. Das ist schweisstreibend, denn es sind immer noch satte 30 Grad. Unter Deck sind es sogar 35! Welch ein Glück, dass man hier im Hafen von Bord aus baden kann. Das Wasser im Hafen ist kristallklar.
Samstag, d. 14.10., El Hierro – Immer noch Kalima. Wir starten dennoch eine kleine Inseltour, wieder in den Norden, und hoppen erneut von Badestelle zu Badestelle. Da es auf El Hierro kaum natürliche Strände gibt, hat man hier – wie auf den Azoren – überall Wasserbecken in den Felsen angelegt, die ein brandungs- und sandfreies Badeerlebnis ermöglichen. Erstaunlicherweise ist es aber nirgendwo sonderlich voll!
Abends wieder Besuch von Palomita. Offensichtlich ist sie auf der Suche nach Trinkwasser. Da wir keine Lust auf weiteren Taubenschiet an Bord haben, verscheuchen wir sie. Sie wandert daraufhin vorwurfsvoll auf der Kaimauer auf und ab. Ich drehe den Wasserhahn am Steg ein wenig auf, so dass er tropft. So kann Palomita trinken, ohne bei uns das Cockpit zu beschmutzen….
Sonntag, d. 15.10., El Hierro – Wir wagen uns an einen Ausflug in den Süden, obwohl es dort besonders heiss sein soll. Uns interessiert, wie der zweite Hafen von El Hierro – Restinga – aussieht. Wär das was für TinLizzy? Wir wären dem „Ferro-Meridian“ dann um einiges näher…. Restinga, so stellt sich heraus – ist als Hafen zwar attraktiver als La Estaca, denn es gibt im Ort zahlreiche Restaurants und gute Tauchspots. Leider ist es deshalb aber auch rappelvoll, und ankommende Schiffe müssen in Warteschleife an die Kaimauer gehen. Wird also nichts…
Immerhin haben wir jetzt aber schon einen ersten Eindruck vom Inselinneren bekommen. El Hierro ist – wie auch Gomera und La Palma – im Inneren bewaldet. Wir staunen, wie grün es ist und genießen die würzige, frische Luft im Kiefernwald von El Pinar. Hier stehen echte Prachtexemplare der Kanarischen Kiefer, die steinalt sein müssen. Offensichtlich konnte ihnen auch der eine oder andere Waldbrand nichts anhaben. Ihre Borke ist regelrecht verkohlt und verkrustet, dennoch blieben die Bäume am Leben und trieben neu aus ….
Abends an Bord der TinLizzy bekommen wir wieder Besuch von Palomita. Sie gibt einfach nicht auf und scheint uns in ihr kleines Taubenherz geschlossen zu haben…. Offensichtlich macht auch ihr der Kalima zu schaffen, und sie spürt, dass sie den Flug zurück in ihren Heimatschlag bei dieser trockenen, staubigen Hitze nicht schaffen würde.
Ich sitze im Cockpit und schaue in die Bucht. Es ist düster, fast nebelig, die Berge der Baia de las Playas sind nicht mehr zu erkennen, und die Betonnungen der Hafeneinfahrt veschwimmen im Dunst.„Es wird bald November, es sieht kalt aus, zieh dich warm an!“, meldet mein präfrontaler Kortex – obwohl ich schwitze, schwitze, schwitze. Eine eigenartige Dissonanz. Ich bin völlig neben der Spur!
Montag, d. 16.10., El Hierro – Endlich kein Kalima mehr. Die Temperaturen sind auf angenehme 28°C gefallen. Heute wollen wir uns deshalb „El Golfo“ anschauen, ein Tal im Nordwesten der Insel. Es ist durch Bergstürze und Trümmerlawinen eines vorher dort stehenden Vulkans entstanden. Vom verbliebenen halbrunden Kraterrest hat man einen wunderbaren Blick in die Ebene. Wir fahren zunächst wieder ins Innere und arbeiten uns dann durch den Kiefern- und Lorbeerwald auf engen Serpentinen abwärts. Das Autofahren ist hier richtig anstrengend – unsere Mühen werden aber immer wieder durch atemberaubende Panoramen belohnt.
Die Talebene von El Golfo ist sehr fruchtbar. Überall gibt es Obstplantagen, und in den Gärten grünt und blüht es trotz der Trockenheit. Gegen Nachmittag erreichen wir, als wir uns auf der Küstenstraße weiter westwärts bewegen, dann tatsächlich den „Ferro-Meridian“. Hier, am nordwestlichen Zipfel der Insel ist nichts als Lava, aber es gibt entlang der Küste einen gut gepflegten Wanderweg, der uns von einer beindruckenden Felsbucht in die nächste führt. Die Brandung ist furchterregend!
Zum Abschluss wollen wir noch den Faro de Orchilla am süd-westlichen Zipfel von El Hierro besuchen. Wir verlassen die Küstenstraße und nehmen Kurs auf den Leuchtturm, doch plötzlich verwandelt sich die Straße in eine ungeteerte Schotterpiste. Ende vom Gelände !! Schotterpisten dürfen wir mit unserem Mietwagen nicht befahren – und für eine weitere Wanderung ist es einfach zu spät. Wir drehen wieder ab.
18 Uhr, zurück an Bord der TinLizzy. Wir sind hundemüde und doch zufrieden. Wir haben den Ferro-Meridian gekreuzt, hatten fantastische Einblicke ins Golfo-Tal und die Lava-Wüsten von El Sabinar. Doch irgendwas fehlt. Wo ist Palomita? Wir sehen sie nirgends. Sie scheint sich – mit abflauendem Kalima – endlich auf den Heimweg gemacht zu haben. Ich vermisse sie fast ein wenig. Komm gut heim, Palomita …..
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